Einleitung
In der Nacht des 14. Juli 2021 brachen über die Einwohner*innen des Ahrtals in Rheinland-Pfalz die Fluten des sonst kleinen Flusses Ahr herein. Insgesamt wurden in dieser Gegend mindestens 134 Menschen durch die Wassermassen getötet (eine ursprüngliche Zahl ging von 141 Toten aus) und mehr als 766 Menschen verletzt. Auch haben von den im Ahrtal lebenden 56,000 Menschen mindestens 17,000 ihr Hab und Gut verloren. 3,000 Häuser sind beschädigt und 500 zerstört worden. Am schlimmsten betroffen waren die Ortschaften Schuld am oberen Verlauf der Ahr und Ahrweiler weiter flussabwärts, die von Pegelständen von über 7 Metern überrollt wurden.
In Folge dieser Katastrophe haben sich tausende freiwillige Helfer*innen auf den Weg gemacht, um den betroffenen Menschen in der Region zu helfen. Einer dieser Helfer aus dem Landkreis Celle ist der 49-jährige Michael Ewert, der insgesamt zwei Wochen in Bad Neuenahr-Ahrweiler und Walporzheim im Ahrtal verbrachte. Dieser Blogeintrag basiert, neben frei zugänglichen Informationen, die den Hergang der Katastrophe darlegen, auf seinen Erzählungen.
Der Hergang der Katastrophe
Die Ahr ist ein kleiner Fluss, der seinen Ursprung in der Eifel in Nordrhein-Westfalen hat. Sie hat eine Länge von 85,1 km und mündet in der Nähe der Stadt Sinzig in den Rhein.

Schon einige Tage vor dem 14. Juli meldete die 2012 in Betrieb genommene Europäische Flutwarnbehörde (EFAS) and mehrere Landesämter für Umwelt, dass es in den folgenden Tagen in der Schweiz, in Belgien und in einigen Gebieten um den Rhein zu massiven Überflutungen kommen könnte. Diese Informationen sind jedoch erst viel zu spät an die jeweiligen regionalen Behörden weitergeleitet bzw. von diesen umgesetzt worden. Das heisst, dass trotz vorheriger Warnungen, keine Evakuierungsmaßnahmen eingeleitet worden sind. So kam es, dass in der Nacht des 14. Juli massive Regenfälle die kleine Ahr in einen reißenden Strom verwandelten und die Menschen viel zu spät von den Behörden gegen 23 Uhr aufgefordert wurden, ihre Häuser schnellstmöglich zu verlassen.
Michael erzählt, dass es genau diese verspätete Warnungen waren, die Menschenleben gekostet haben. So schaffte es ein Vater, schnell eine Tasche für sich und seine zwei kleinen Kinder zu packen und seine Kinder in die Kindersitze seines Autos zu schnallen. Als er für weniger als eine Minute nochmals in sein Haus ging, um diese Tasche zu holen, war das Auto bereits von den Wassermassen erfasst worden. Das Auto und die Kinder wurden ca. 5 Wochen danach von einem Landwirt gefunden.
Freiwillige Helfer*innen
Von Beginn an liefen, so Michael, die offiziellen Hilfen schleppend an und es waren insbesondere Landwirte und Unternehmer aus der Region, die die Betroffenen mit Lebensmitteln, Getränken und schwerem Gerät zu Räumung unterstützen. Auch waren es diese, die damit begannen, Straßen zu räumen, Bewohner*innen aus ihren Häusern zu retten und Leichen zu bergen. Nach kurzer Zeit setzten sich tausende Helfer*innen aus dem ganzen Bundesgebiet, aus der Schweiz, Belgien oder den Niederlanden in Bewegung, um den Menschen im Ahrtal beistehen zu können.
Michael war am Ausräumen und Säubern von Häusern beteiligt, da viele bis ins erste Stockwerk nicht nur Wasserschäden zu verzeichnen hatten, sondern der Boden auch von einer 30-40cm dicken, festen Schlickschicht bedeckt war. Dieser Schlick bestand jedoch nicht nur aus Sand oder Lehm, sondern war durchsetzt von Chemikalien, Farben, Ölen und Fäkalien, die durch die Kraft der Flutwelle aus Garagen, Fahrzeugen Grundstücken und Kläranlagen herausgetragen wurden.

Da es keine offiziell koordinierte Hilfestrategie für die freiwilligen Helfer*innen gab, organisierten sich diese selber: Es wurden Gewerbeflächen und andere Grundstücke bereitgestellt, auf denen Camps entstanden; kleine und größere Werkstätten wurden geschaffen, die schwere und nicht so schwere Fahrzeuge kostenfrei reparierten; Reifen und andere Materialien wurden gespendet, die in den Camps trocken zwischengelagert werden konnten; Verpflegung und Spenden aus dem ganzen Bundesgebiet sind in den Camps koordiniert und verteilt worden; und nicht zuletzt fanden sich Helferinnen und Helfer, sowie Betroffene zusammen, um sich über das Erlebte austauschen zu können und um den nächsten Tag zu planen. Zudem dienten diese Gespräche allen Beteiligten, das Erlebte, das Gesehene und das schwer zu begreifende Leid psychisch verarbeiten zu können.
Um den Scharen der freiwilligen Helfer*innen gerecht zu werden, ist ein Shuttle-Service in das Katastrophengebiet eingerichtet worden. Dieser wird auch von Privatunternehmen unterhalten und ist aus einer privaten Initiative entstanden. Michael gibt an, dass der Shuttle-Service seit seiner Inbetriebnahme bereits mehr als 40,000 Helfer*innen transportiert hat. Und dies umfasst nicht jene, die entweder mit Privatwagen oder anders in die Gegend gekommen sind, und auch nicht jene, die bereits länger vor Ort gewesen sind.
Neben Helferinnen und Helfern aus dem Bundesgebiet sind auch, wie bereits oben erwähnt, viele ausländische Freiwillige in das Katastrophengebiet gereist. Michael erzählt, wie harmonisch die Kooperation abläuft und wie schnell man im Kreise der Helfenden aufgenommen wird. Etwaige politische oder religiöse Differenzen werden durch den gemeinsamen Nenner, den Betroffenen zu helfen, ersetzt.
Belastungen
Es ist schwer, sich auszumalen, was freiwillige Helfer*innen im Katastrophengebiet erlebt haben bzw. immer noch erleben. Michael erwähnt, dass sie angehalten worden sind, Schutthaufen, von denen ein merkwürdiger Geruch ausgeht, zu meiden, da es immer sein kann, dass sich dort noch Leichen befinden. Und als nicht-Ausgebildeter diese Erfahrungen zu machen, sei allen zu ersparen und professionellen Einsatzkräften zu überlassen. So kam es bereits vor, dass eine Helferin versuchte, sich das Leben zu nehmen, da das Erlebte zu extrem war. Auch darf nicht vergessen werden, dass die Zerstörungen kriegsähnlich sind, was bedeutet, dass viele Menschen ihr gesamtes Hab und Gut oder aber einen großen Teil dessen verloren haben.

Michael berichtet von einer Frau, die auch nach Tagen derart geschockt wirkte, dass sie die Helfer bat, im Schlick in ihrem Keller, der durchsetzt von Scherben und anderem Material war, nach ihrem Hausschlüssel zu suchen. Auch ein älterer Herr und seine erwachsenen Kinder, die nicht aufhören konnten zu weinen, wird Michael nicht vergessen können.
Daneben ist auch klar, dass die körperliche Belastungen um Straßen und Keller zu räumen, immens sind. Für Michael und seine Kollegen begann der Tag um 5:00, so dass sie gegen 6:00 im Katastrophengebiet haben sein können. Je nach Wetterlage war es auch möglich, dass sie bis abends gegen 20:30 Uhr im Einsatz waren. Die Kraftanstrengungen, die sie tagtäglich zu leisten hatten, sind wahrscheinlich am besten darstellbar an einem großen, schweren Teppich, der im Schlick in einem Keller festsaß und in dem ein Kinderwagen und anderer Schrott verkeilt war. Es bedurfte 8 Mann, einer Stunde Arbeit und die Aufbietung aller körperlicher Kräfte, um diesen Teppich aus dem Keller bewegen zu können. Eines jeden Belastbarkeit wird somit täglich gefordert.
Aussichten
Für jene, die ihr Hab und Gut verloren haben, ist nichts mehr so, wie es einmal war. Michael berichtet, dass sich somit viele entschieden haben, ihre Heimat — das Ahrtal — dauerhaft zu verlassen. Für manche waren die letzten Wochen auch so belastend, dass die Suizidrate in der Gegend deutlich zugenommen hat. Folglich macht sich, nach Michaels Einschätzung, derzeit das Gefühl der Hilflosigkeit und der Wut breit: einerseits erreicht zu wenig staatliche Hilfe das Katastrophengebiet, andererseits gab es Warnungen und Hinweise darauf, dass eine solche Katastrophe möglich zu sein schien. Aber von unbürokratischer Hilfe kann derzeit wenig die Rede sein. Auch 1,000€, die vielen Betroffenen bereit gestellt wurden, reichen nicht aus, um das Nötigste, wie Schuhe oder Kleidung, zu besorgen.
Man muss sich hier vor Augen führen, dass die Katastrophe die Gegend in der Nacht heimsuchte. Und so sind viele nicht mehr in der Lage gewesen mehr zu retten als das, was sie am Körper trugen. Auch die ernüchternden und geradezu vernichtenden Auswertungen verschiedener Versicherungen, die sich aufgrund fehlenden Flutschutzes weigern zu zahlen, erhellen die Aussichten nicht. Auch die unterschiedlichen Einschätzungen von Bausachverständigen sähen Zweifel, wann oder ob Häuser wieder bewohnbar sein können.
Insgesamt ist, so Michael, der Zorn auf die Politik und auf große Hilfsorganisationen, wie das Rote Kreuz, groß. So erwarten viele, dass mehr Gelder in die Region fließen, um diese schnell wieder aufbauen zu können. Auch sind Gebaren, wie die des CDU Kanzlerkandidaten Armin Laschet, der im Katastrophengebiet feixend fotografiert wurde, der Allgemeinstimmung nicht zuträglich. Überdies seien die Darstellungen der Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion (ADD) Rheinland-Pfalz nicht mit der Realität vergleichbar: Zum Beispiel bemerkt Michael, dass es nicht, wie vom ADD dargestellt, hauptsächlich öffentliche Müllentsorgungsunternehmen seien, die die Straßen vom Schutt befreit haben, sondern private Helfer*innen mit ihren Traktoren und anderem schweren Gerät.
Andererseits ist die Bevölkerung den freiwilligen Helfer*innen zutiefst dankbar und es hat sich gezeigt, wie viel Solidarität möglich ist. Michael ist überzeugt, dass ohne private Hilfe die Beseitigung der Katastrophenschäden lange nicht so weit fortgeschritten wäre, wie sie es bereits ist. Allerdings wird der Wiederaufaufbau und die Wiederherstellung der Strom-, Wasser- und Abwassernetze Jahre, wenn nicht Jahrzehnte in Anspruch nehmen.
Falls Ihr Interesse habt, auch in der Region zu helfen, könnt Ihr zum Beispiel über die Facebook-Gruppe ‘Hochwasser in AW – freiwillige Helfer’ mehr Informationen bekommen.
Ich persönlich möchte mich ganz herzlich bei Michael dafür bedanken, dass er sich die Zeit genommen hat, mir von seinen Erfahrungen zu berichten.